Unsere Lebendigkeit drückt sich durch Bedürfnisse aus und wird durch deren Erfüllung gleichzeitig erhalten. Zu leben bedeutet, Bedürfnisse zu haben, und sie zu erfüllen. Unsere Bedürfnisse selbst sind abstrakt, formlos, wertfrei. Alles was wir tun oder nicht tun, jede körperliche und geistige Aktivität, alles womit wir interagieren und was wir konsumieren, kann uns als Strategie dienen, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen – lebendig zu sein. Bewusst oder unbewusst versuchen wir dabei immer, unser momentan wichtigstes Bedürfnis zu erfüllen. Erfüllen wir dabei Bedürfnisse auf Kosten von anderen, kommt es zu Konflikten mit unserer Person oder unserer Mitwelt. Darin bestehen die Herausforderungen in unserem Leben und unserer Welt.
Durch das Instrument unserer Gedanken sind wir in der Lage, uns effizienter, vielseitiger und nachhaltiger um unsere Bedürfnisse zu kümmern. Wir können lernen, planen, uns austauschen, kooperieren, komplexe Werkzeuge und Systeme entwickeln und nutzen, unsere Persönlichkeit und unsere Mitwelt verändern. Wir können etwas tun, was manche unsere Bedürfnisse zunächst nicht erfüllt, mit der Absicht, sie oder andere dadurch in Zukunft besser zu erfüllen. Wir können lernen, unsere Bedürfnisse auf eine Weise zu erfüllen, die möglichst nicht die Erfüllung anderer Bedürfnisse einschränkt oder verhindert.
Durch unseren unbewussten Kontakt mit unseren Gedanken, unserer Identifikation mit ihnen und unserem daraus entstehenden Ego, trennen wir uns von grundlegenden Seins-Erfahrungen. Es fällt uns schwer, Sicherheit, Vertrauen, Lebendigkeit, Frieden, Freude und Liebe aus uns selbst heraus zu erfahren. Es entsteht ein Mangel in uns, Unruhe, eine existentielle Angst und Sehnsucht, die beständig auf uns einwirken. Gleichzeitig wird die Ursache dieses Mangels dabei verborgen, weil wir unsere Existenz mit der unseres Egos gleichsetzen. Wir können dadurch nicht erkennen, dass dem Ego unser Sein und die Aktivität der Identifikation vorausgeht, die diesen Mangel erzeugt. Darin besteht die Grundursache für die meisten Herausforderungen in unserem Leben und unserer Welt.
Aus diesem Mangel heraus treten wir in Kontakt mit unserer Mitwelt. Wir übernehmen oder entwickeln Bedingungen, von denen wir glauben, dass sie erfüllt werden müssen, um ihn zu beheben. Im Moment ihrer Erfüllung, können unsere mangelverursachenden Überzeugungen vorübergehend ihre fülleblockierende Wirkung verlieren und es entsteht dadurch die Täuschung, unser Glück hinge von der Erfüllung dieser Bedingungen ab. Wir versuchen bestimmte Leistungen zu erbringen, weil wir dadurch die mangelverursachende Überzeugung, nicht liebenswert zu sein, wie wir sind, vorübergehend außer Kraft setzen können, oder unsere Mitwelt zu kontrollieren, weil sie dadurch trotz unserer Überzeugung, wir könnten niemandem vertrauen, vorübergehend weniger bedrohlich erscheint.
Viele unserer Strategien, um nur für Momente Glück zu erfahren, bestehen in der vorübergehenden Ablenkung, Betäubung und Ausschaltung unseres Egos, unserer Gedanken. Statt die Identifikation mit ihnen zu lösen und uns selbst als Quelle unserer Fülle zu erfahren, lernen wir, unsere Bedürfnisse an bestimmte Strategien zu binden, an bestimmte Dinge, Aktivitäten und Zustände im Außen, daran, etwas zu erreichen, zu werden oder zu konsumieren, was wir nicht sind oder nicht haben und richten unser ganzes Leben danach aus. Je stärker diese Bindung wird, desto schwerer fällt es uns, sie loszulassen. Wir identifizieren uns mit diesen Strategien, sie werden Teil unseres Selbstbildes, unserer Persönlichkeit – und damit existentiell wichtig für uns. Was sie in Frage stellt oder behindert, kann zu einer Bedrohung für uns werden.
Wir nutzen Strategien, durch die wir von unserer Mitwelt abhängig sind oder uns von ihr trennen, die nicht dauerhaft verfügbar sind, nur begrenzte Zeit wirken und uns und unserer Mitwelt Leid zufügen können. Wenn wir unsere Bedingungen nicht erfüllen können, nutzen wir Strategien zum Verdrängen oder Betäuben unserer unangenehmen Gefühle. Wir müssen sie oft anhäufen, variieren und verstärken, weil sie durch Gewöhnung ihre Wirkung verlieren. Weil nichts im Außen uns dauerhaft bringen kann, was wir wirklich suchen und brauchen, suchen wir immer weiter, brauchen wir immer mehr. Es entsteht ein Kreislauf, der uns daran hindert, die wirklichen Ursachen unseres Mangels zu erkennen und zu beheben und in dem wir immer wieder den gleichen Symptomen begegnen, unter denen wir leiden und die wir bekämpfen.
Je weniger wir das, was wir brauchen, in uns selbst finden, je mehr unsere Strategien von bestimmten Vorstellungen über uns selbst und die Welt, von bestimmten Dingen, Aktivitäten und Zuständen im Außen abhängen, je mehr Zwischenschritte sie benötigen, die nicht unsere Bedürfnisse selbst erfüllen, desto größer wird die Gefahr, dass wir uns immer weiter von unseren wirklichen Bedürfnissen entfernen. Es wird anstrengender, aufwendiger und weniger nachhaltig, sie zu erfüllen. Unser Mangel und der Druck ihn zu beheben wachsen und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es zu Konflikten kommt. Je weniger wir dabei mit unseren Gefühlen, unserer Lebendigkeit verbunden sind, desto weniger fähig sind wir, Mitgefühl und Liebe zu empfinden, desto härter und rücksichtsloser verteidigen wir unsere Strategien und Überzeugungen und kämpfen um sie.
Mit dem Abstumpfen unseres bewussten Fühlens, verkümmert schließlich unsere Fähigkeit, den Zustand unserer Bedürfnisse lesen zu können. Wir sind nicht in Verbindung mit unseren wirklichen Bedürfnissen und unsere Bedürfniserfüllung beruht immer mehr auf Überzeugungen und Strategien, die uns Lebendigkeit kaum noch und zu immer höheren Kosten erfahren lassen. Wir können uns so weit von ihr entfernen, dass uns wirkliche Lebendigkeit langweilig erscheint, wir sie nur noch durch besonders intensive, extreme und schmerzvolle Empfindungen erfahren können und bewusst oder unbewusst Situationen schaffen, in denen diese ausgelöst werden. Oder wir können so der Lebendigkeit entfremdet sein, dass sie uns Angst macht, wir sie vermeiden, unterdrücken und bekämpfen und uns überwiegend mit Unlebendigem beschäftigen und umgeben.
Überzeugungen und Strategien, an die wir unsere Sicherheit gebunden haben und unter denen wir und unsere Mitwelt leiden, blockieren unsere Lebendigkeit, weil wir Angst haben, mit ihnen unsere Sicherheit selbst aufgeben zu müssen. Wir behalten lieber Vertrautes bei, unter dem wir leiden, als unserer Angst vor Unbekanntem zu begegnen. Oder wir haben so große Angst, im Vertrauten uns selbst und unseren verdrängten Gefühlen zu begegnen, dass wir Tiefe und Verletzlichkeit meiden, oberflächlich bleiben und ständig nach neuen Erfahrungen suchen, statt sie zu vertiefen. Weil wir gelernt haben, unseren inneren Mangel durch Tun und Konsum zu besänftigen, können wir seine wirklichen Ursachen nicht erkennen und beheben. Wir tun um des Tuns willen, handeln in Automatismen und kommen nicht an, finden keine Ruhe. Wir leben in einer Mangelgesellschaft, die vergeblich versucht, ihren inneren Mangel mit einer anwachsenden Fülle im Außen zu stillen – und verletzen und zerstören dabei unsere Beziehungen, unsere Mitwelt, unsere Existenzgrundlagen und das Leben selbst.
Wir können von innerem Mangel angetrieben werden oder von innerer Fülle. Unser Wirken entspringt und dient ursprünglich unserer Sicherheit, unserer Lebendigkeit, unserem Frieden, unserer Freude und unserer Liebe. Wir können sie aus uns selbst heraus erfahren und Situationen im Außen entsprechend schaffen und gestalten, oder von den Situationen im Außen erwarten, unsere Bedingungen zu erfüllen und darum kämpfen, um Fülle erfahren zu können.
Wenn wir uns der Bedürfnisse hinter unseren Strategien bewusst werden, können wir erkennen, wo wir selbst dazu beitragen, ihre Erfüllung zu verhindern und gewinnen einen größeren Spielraum von Strategien, mit denen wir sie erfüllen können. Teilen wir unsere Bedürfnisse mit unserer Mitwelt, erleichtert uns das gegenseitiges Verständnis, Einfühlungsvermögen und das Finden von Strategien, die für alle Beteiligten stimmiger sind.
Was ist mir wirklich wichtig in meinem Leben und meiner Welt? Wofür genau tue ich, was ich tue? Was brauche ich wirklich? Was will ich dadurch erfahren? Was will ich dadurch fühlen?
Wenn wir zum Grund unserer Antwort gelangen, gelangen wir zu unserem Selbst: zu Lebendigkeit, Frieden, Freude und Liebe. Auch wenn wir ganz im Hier und Jetzt bei dem sind, was wir gerade tun, können wir unser Selbst und die damit verbundene Fülle erfahren.