Durch unsere Gefühle erfahren wir Lebendigkeit. Durch sie bekommen unser Leben, unsere Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen eine Bedeutung. Sie sind körperliche Signale, die uns Auskunft über den Zustand unserer Bedürfnisse geben und uns dazu bewegen, uns um sie zu kümmern, etwas zu bewahren oder zu verändern.
Je nachdem, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht, entstehen in unserem Bewusstsein Gefühle in Form von körperlichen Empfindungen und Reaktionen, die wir als angenehm oder unangenehm erleben. Gefühle sind immer wahr, sie sind einfach da. Sie sind aber keine Gedanken. Sie treffen keine Aussagen über Tatsachen und darüber, durch welche Bedürfnisse sie ausgelöst wurden und was die Ursache für den Zustand dieser Bedürfnisse ist. Da Gedanken, an die wir glauben, den Zustand unserer Bedürfnisse beeinflussen, lösen Gedanken Gefühle aus. Umgekehrt können Gefühle Gedanken auslösen. Das Kommen und Gehen von Gedanken, ist begleitet vom Kommen und Gehen von Gefühlen. Da unsere Gefühle und Gedanken so eng miteinander verflochten sind, fällt es uns oft schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Wir übertragen unbewusst die Wahrheit unserer Gefühlsempfindungen auf die Aussagen unserer Gedanken und erfahren sie dadurch als Wirklichkeit.
Unsere Gefühls-Empfindungen und ‑reaktionen brauchen auf unseren Körper gerichtete Aufmerksamkeit, um bewusst wahrgenommen zu werden, ohne uns mit ihnen zu identifizieren und annehmendes Fühlen, um wieder gehen zu können. Wenn wir uns mit unseren Gefühlen identifizieren, mit ihnen verschmelzen, erfahren wir uns als unsere Gefühle, sind ganz durch sie eingenommen und unser Sein, unsere Wahrnehmung, unser Denken und Wirken wird durch sie bestimmt. Weil wir das oft nur schwer aushalten können, verdrängen wir sie. Wir können Gefühle verdrängen, indem wir unsere Aufmerksamkeit von unserem Körper abwenden oder betäuben und sie dadurch nicht mehr bewusst fühlen, oder indem wir durch geistige oder körperliche Aktivitäten unseren geistigen oder körperlichen Zustand so verändern, dass wir andere Gefühle auslösen, die die ursprünglichen Gefühle überlagern. Oft verdrängen wir Gefühle bewusst oder unbewusst durch eine Kombination dieser Möglichkeiten. Oder wir versuchen Situationen zu vermeiden, in denen bestimmte Gefühle ausgelöst werden könnten.
Die Identifizierung mit unseren Gefühlen, ihre Verdrängung und Vermeidung hat unterschiedliche Folgen. Wir lernen nicht, mit Gefühlen bewusst, gesund und lebendig in Kontakt zu sein und sind dadurch in unserer Bewusstheit, unserer Selbst-Bestimmung, unserem Mitgefühl und unserer Weiterentwicklung eingeschränkt. Unsere Wahrnehmungsschwelle für Gefühle steigt. Wir brauchen immer mehr Kraft und Energie, immer intensivere und sich verändernde Reize, um fühlen zu können, was wir fühlen wollen und nicht zu fühlen, was wir nicht fühlen wollen. Wir können die Fülle an Gefühlen in ihrer Vielfalt und Feinheit immer schlechter wahrnehmen und erfahren dadurch weniger Lebendigkeit. Wir merken dadurch oft erst spät, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt sind – wenn die ausgelösten Gefühle schon intensiv und schmerzvoll oder wir sogar krank sind und wenn wir bereits unbewusst durch Automatismen auf Situationen reagieren, unsere Mitwelt oder Person bekämpfen. Wir kommen dadurch kaum in Kontakt mit den wirklichen Ursachen unserer Gefühle – unseren Bedürfnissen und Gedanken – und erleben immer wieder Situationen mit ähnlichen Gefühlsmustern.
Verdrängte Gefühle sammeln sich an, intensivieren sich und kosten uns immer mehr Energie. Wir tragen sie unbewusst mit uns herum und übertragen und projizieren sie auf unsere Mitwelt. Sie können immer wieder geballt in Situationen ausgelöst werden, die mit ihrer Ursache nicht in direkter Verbindung stehen oder zu dauerhaft anhaltenden Stimmungen werden. Auch mit ihnen verbundene Gedanken, werden so scheinbar immer wieder bestätigt. Wir leben dadurch mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart. Es können Verhaltensweisen, Situationen und ganze Lebensbereiche entstehen, die mehr dem Vermeiden und Verdrängen von Gefühlen dienen, als unserer Lebendigkeit. Durch das Hineinsteigern in Gefühle und ihr unbewusstes Ausagieren, durch die Veränderungen unseres körperlichen und geistigen Zustandes und daraus entstehenden Handlungen, können wir selbst und unsere Mitwelt Leid in Form von körperlichen, geistigen und emotionalen Abhängigkeiten, Erkrankungen und Verletzungen erfahren.
Auch wenn wir über Gefühle nachdenken, uns mit Gedanken, die Gefühle ausgelöst haben, auseinandersetzen oder uns durch Konzentration auf Gedanken in Gefühle hineinsteigern und sie dabei nicht bewusst wahrnehmen und annehmend fühlen, verdrängen wir sie. Sind Gefühle erst einmal entstanden, brauchen die Körperreaktionen und ‑empfindungen annehmendes Fühlen, unabhängig davon, ob die mit ihnen verbundenen Gedanken der Wirklichkeit entsprechen oder nicht.
Darüber hinaus sind die aktuellen Situationen und Gedanken oft nur ihr Auslöser und die ausgelösten Gefühle nur die Spitze eines Eisbergs. Sie stammen oft noch aus unserer Kindheit, in der wir einen großen Schmerz erfahren haben, aber nicht die nötige Fähigkeit und Unterstützung hatten, um ihn annehmend ganz zu fühlen. Stattdessen haben wir ihn verdrängt, indem wir Überzeugungen und Gefühle geschaffen haben, mit denen wir besser umgehen konnten. Wir haben Teile unserer Lebendigkeit, die mit seiner Auslösung in Verbindung standen, eingefroren und verborgen, um uns selbst oder unsere Mitwelt zu schützen, damit etwas für uns so Schmerzvolles nicht wieder passiert.
Wenden wir uns unseren Gefühlen nicht annehmend zu und geben ihnen genug Raum und Aufmerksamkeit, können die Gefühle, die sich im Laufe unseres Lebens angesammelt haben, nicht frei fließen, wir kommen nicht mit den sie verursachenden Überzeugungen und dem darunter liegenden ursprünglichen Schmerz in Kontakt und können sie nicht lösen. Sie werden so immer wieder ausgelöst und dadurch scheinbar immer wieder bestätigt. Unsere Vergangenheit wirkt so in unsere Gegenwart hinein. Die Angst vor den Gefühlen, vor denen wir als Kind geflohen sind, beeinflusst uns weiter, trennt uns von unserem Selbst und der Fülle in uns. Wichtige verdrängte Wesensanteile bleiben unserem Bewusstsein verborgen und werden nicht wieder lebendig.
Gefühle, für die wir nicht die Verantwortung übernehmen und die wir verdrängen, beeinflussen uns unbewusst. Auch scheinbar rein rationale Entscheidungen beruhen immer auch auf Gefühlen. Wie bewusst wir sie treffen können, hängt davon ab, wie bewusst und annehmend wir mit diesen Gefühlen in Kontakt sind. Wenn wir die Verantwortung für unsere Gefühle an unsere Mitwelt abgeben, machen wir uns abhängig und können uns als unfrei und ohnmächtig erleben, weil unsere Mitwelt scheinbar die Macht über unsere Gefühle hat und dadurch unser Sein und Wirken beeinflusst wird. Wir werden leichter manipulier- und kontrollierbar, weil unsere Mitwelt gezielt Gefühle in uns auslösen und unsere Aufmerksamkeit auf scheinbare Ursachen lenken kann, die uns zu vorhersehbaren Handlungen verleiten. Wir übertragen oder projizieren Gefühle auf unsere Mitwelt oder unsere Person, bekämpfen sie und versuchen die scheinbaren Ursachen für unsere Gefühle auszulöschen.
Wir haben damit begonnen, uns mit Gefühlen zu identifizieren, sie zu verdrängen und die Verantwortung für sie abzugeben, bevor wir lernen konnten, mit ihnen bewusst und annehmend in Kontakt zu sein. An die Folgen, die daraus entstanden sind, unser Lebensgefühl, unsere Einstellungen und unsere Verhaltensweisen, können wir uns so gewöhnt haben, dass wir mit ihnen nicht nur vertraut sind, sondern uns mit ihnen identifizieren und sie als natürlichen Teil unseres Wesens erleben.
Wenn wir die Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen und sie mit unserer Mitwelt teilen, geben wir einen Einblick in unser inneres Erleben, machen damit unsere Ansichten und unser Verhalten nachvollziehbarer und erleichtern Mitgefühl und Empathie. Wenn wir unsere Gefühle bewusst annehmen und da sein lassen, sie frei von den mit ihnen verbundenen Geschichten fühlen, können wir uns in sie hinein entspannen. Widerstände lösen sich auf, unsere Gedanken werden ruhiger und klarer, unsere Handlungen stimmiger. Wir können Gefühle wieder feiner und intensiver wahrnehmen und werden lebendiger, gelassener und einfühlsamer. Lassen wir uns ganz durch unsere Gefühlsschichten hindurch sinken, kommen wir am Grund bei uns selbst an. Wir erfahren eine erfüllte Leere und Stille, Lebendigkeit, Frieden, Freude und Liebe.