Als lebendige Wesen haben wir Bedürfnisse. Sie machen das Wesen von Lebendigkeit aus und sind gleichzeitig Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit diese Lebendigkeit erhalten bleibt. Alles was lebendig ist, hat Bedürfnisse.
Unser Leben ist immer danach ausgerichtet, Bedürfnisse zu erfüllen. Durch sie wird unser gesamtes Handeln angetrieben. Es ist nicht möglich – und wäre auch nicht sinnvoll – nicht nach unseren Bedürfnissen zu leben. Darin, wie bewusst wir das tun, gibt es aber große Unterschiede – mit weitreichenden Auswirkungen.
Bedürfnisse schenken uns die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen. Das Bedürfnis nach Lebendigkeit hat zur Folge, dass wir diese Lebendigkeit erhalten wollen, uns selbst und unsere Mitwelt wahrnehmen und erkunden, mit ihr Kontakt aufnehmen, sie beeinflussen und von ihr beeinflusst werden wollen. Daraus entstehen weitere Bedürfnisse, die selbst Teil der Lebendigkeit sind und sie für uns vielfältig erlebbar machen.
Bedürfnisse sind selbst formlos. Sie existieren, sind aber nicht direkt wahrnehmbar, sondern nur durch unsere Gefühle fühlbar und über unsere Gedanken abstrakt erfassbar. Erfüllte Bedürfnisse lösen angenehme Gefühle, unerfüllte Bedürfnisse unangenehme Gefühle aus. Dadurch erfahren wir unsere Lebendigkeit und alles bekommt für uns eine Bedeutung. Mit Hilfe unserer Gedanken können wir Bedürfnissen durch Wörter eine Form geben, die aber nur auf das Bedürfnis hinweist, also nicht das Bedürfnis selbst ist.
Hilfreiche Begriffe können beispielsweise sein: Selbsterhaltung, Sicherheit, Freiheit, Sinn, Kontakt, Nähe, Raum, Vertrauen, Vertrautheit, Entwicklung, Beständigkeit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Offenheit, Verständnis, Mitgefühl, Freude, Leichtigkeit, Spiel usw.
Sinnvolle Begriffe für unsere Bedürfnisse zu finden ist hilfreich, da wir uns so mit Hilfe unserer Gedanken besser um ihre Erfüllung kümmern und uns darüber austauschen können. Gleichzeitig kann es ihre Erfüllung aber auch erschweren, wenn wir durch unsere Gedanken Schein-Bedürfnisse erschaffen, die wir für unsere wirklichen Bedürfnisse halten und sie statt ihrer zu erfüllen versuchen. Deshalb ist es nicht immer einfach zu erkennen, wie existentiell, wie wirklich und grundlegend ein Bedürfnis tatsächlich ist. Durch unsere Gedankenwelt können ganze Ketten von Bedürfnissen und Schein-Bedürfnissen in uns entstehen, die sich untereinander beeinflussen und schwer zu durchschauen sind.
Wir nehmen unsere Bedürfnisse oft erst dann wahr, wenn sie nicht erfüllt sind: wir fühlen uns „bedürftig”. Manchmal sind uns auch unerfüllte Bedürfnisse so zur Gewohnheit geworden, dass wir diesen Zustand als normal betrachten und sie uns erst auffallen, wenn sie überraschend erfüllt werden. Wenn wir nicht gelernt haben, die Bewusstseins-Vorgänge in uns zu beobachten, sind wir dabei nur indirekt auf der Ebene von Emotionen, Gedanken (oft in Form von Urteilen) und unbewussten Verhaltensweisen mit unseren Bedürfnissen in Kontakt, ohne uns über sie selbst klar und bewusst zu sein.
Ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht, hängt meistens davon ab, wie unsere Gedanken unsere Erfahrungen deuten und bewerten und ob wir selbst – unser Bewusstsein – diese Gedanken für Wirklichkeit hält oder nicht. So können unsere Gedanken unsere Sicherheit als bedroht deuten oder uns selbst als nicht liebenswert. Wenn diese Gedanken für uns Wirklichkeit sind, dann werden unsere Bedürfnisse nach Sicherheit und Wertschätzung nicht erfüllt sein und es werden unangenehme Gefühle ausgelöst – unabhängig davon, wie sicher und liebenswert wir wirklich sind.
Unsere Bedürfnisse sind universell, jedes Lebewesen hat grundlegend die gleichen Lebens-Bedürfnisse: Zu leben, dieses Leben unversehrt zu erhalten und sich dabei lebendig zu fühlen. Die meisten weiteren ergeben sich durch unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Vorstellungen, sind aber meist nicht existentiell. Sie lassen sich durch klares Beobachten auf die grundlegenden Lebensbedürfnisse zurückführen. Was sich vor allem unterscheidet, sind die Vorstellungen über sie und all die unterschiedlichen Strategien, die wir anwenden, um sie zu erfüllen. Diese haben meist eine Form und sind das, was wir im allgemeinen Sprachgebrauch oft als „Bedürfnis” bezeichnen: bestimmte Handlungen und Konzepte, die meist mit bestimmten Personen, Gegenständen, Orten, Vorstellungen und anderen Bedingungen verknüpft sind, die erfolgreich ausgeführt werden müssen, damit sich die für unseren Verstand zugehörigen Bedürfnisse erfüllen.
Diese Strategien sind unterschiedlich gut geeignet, unsere eigenen Bedürfnisse und die unserer Mitwelt zu erfüllen:
Wir haben meist keine Klarheit über unsere wirklichen Bedürfnisse und wie wir sie nachhaltig erfüllen können. Wir haben bestimmte Konzepte und Verhaltensweisen entwickelt und übernommen, die auf dem bewussten oder unbewussten Glauben an bestimmte Gedanken, Deutungen, Bewertungen, Vorstellungen, Überzeugungen und Urteile basieren, aber nicht mit der Lebendigkeit in uns und unserer Mitwelt verbunden sind. Selbst wenn es uns gelingt, die Gedanken-Vorstellungen dessen was wir brauchen zu erfüllen, gelingt es uns nicht, unsere wirklichen Bedürfnisse zu erfüllen. Ohne uns darüber bewusst zu sein wirken wir ihrer Erfüllung oft sogar entgegen oder verhindern sie gänzlich.
Besonders unsere eigenen Glaubenssätze und Überzeugungen über uns selbst und unsere Mitwelt wirken in jedem Moment auf unsere Bedürfnisse. Wenn sie dafür sorgen, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt sind, ist es uns auch durch keine unserer übrigen Strategien möglich, sie gänzlich und langfristig zu erfüllen, weil sie an den eigentlichen Ursachen nichts ändern, die dazu führen, dass sie nicht erfüllt sind. Der überwiegende Teil unserer Konsumwelt mit all ihren Folgen nährt sich daraus. Wir können durch jede Form des Konsums nur für kurze Zeit überdecken, dass wir uns nicht liebenswert oder sicher fühlen, wenn wir bewusst oder unbewusst davon überzeugt sind oder uns so verhalten, dass diese Bedürfnisse nicht erfüllt werden.
Unsere gewählten Strategien ein Bedürfnis zu erfüllen führen oft dazu, dass andere unserer eigenen oder der Bedürfnisse unserer Mitwelt nicht erfüllt werden. Es sind diese nicht miteinander zu vereinbarenden Strategien, die zu Konflikten und Leid führen, nicht die eigentlichen, ihnen zugrunde liegenden Lebens-Bedürfnisse. Wenn wir uns über sie nicht bewusst sind, kann dies zu scheinbar unlösbaren oder nur durch Gewalt lösbaren Konflikten führen. Andererseits eröffnet die Klarheit über sie die Chance auf Verständnis, Vertrauen und Miteinander, da sie uns alle verbinden. Auf dieser Basis können wir leichter Strategien finden, die die Bedürfnisse aller erfüllen.
Alle unsere Handlungen und Verhaltensweisen, Gedankenkonzepte, Bewertungen, Urteile, Empfehlungen, Regeln, Gesetze, Rituale, Entwicklungen und Erfindungen sind Strategien, die dazu dienen Bedürfnisse zu erfüllen. Grundsätzlich können sie sinnvoll und lebensbereichernd sein, da die Erfüllung von Bedürfnissen, besonders in großen, komplexen Gemeinschaften, durch sie vereinfacht werden kann.
Die meisten dieser Strategien haben aber auch einen entscheidenden Nachteil: sie sind selbst nicht lebendig und damit starr und unveränderlich. Sie basieren immer auf ganz bestimmten Bedingungen, sind an bestimmte Voraussetzungen angepasst. Das Leben aber ist lebendig, es ist im ständigen Wandel – und damit auch unsere Lebens-Bedürfnisse und wie wir sie stimmig erfüllen können. Damit unsere Strategien unsere Lebendigkeit fördern und erhalten, und nicht behindern und einschränken, müssen wir sie immer wieder überprüfen und anpassen. Gedanken können dabei immer nur höchstens unterstützen, denn sie sind selbst kein Wahrnehmungsinstrument und können nicht erfassen, ob unsere Bedürfnisse wirklich erfüllt sind oder nicht. Dies können nur unsere Gefühle! Sie sind feine Signale, die uns in jedem Moment über ihren Zustand Auskunft geben.
Je mehr unsere Aufmerksamkeit in unserer Gedankenwelt versunken ist und je mehr wir uns mit unseren Gedanken identifizieren und sie für Wirklichkeit halten, umso schwieriger ist es für uns, Klarheit über unsere wirklichen Bedürfnisse zu gewinnen und ob sie durch unsere Strategien wirklich erfüllt werden, ob sie unserer Lebendigkeit dienen – und der Lebendigkeit unserer Mitwelt.
Unsere blockierte Wahrnehmung für unsere Gefühle, eingeschränkte Empathie, die Trennung von Lebendigkeit in uns selbst und unserer Mitwelt führt zu den negativen Begleiterscheinungen der Macht, Schöpfungs- und Gestaltungskraft unserer Gedanken. Um sie sinnvoll und lebendigkeitsfördernd zu gebrauchen, müssen wir lernen, die feinen Signale unserer Gefühle wahrzunehmen, anzunehmen und zu verstehen!
Wenn unser Bewusstsein erwacht ist, verändert sich unser Empfinden von Bedürfnissen: wir erfahren, dass die meisten nur durch unsere Gedanken entstanden sind und wir uns ohne ihre blockierende Wirkung erfüllt, voller Frieden, Lebendigkeit und Liebe erfahren. Gleichzeitig nehmen wir in jedem Moment feinste Gefühle wahr. Wir sind dadurch mühelos jederzeit mit unseren Bedürfnissen verbunden und haben Klarheit darüber, wie sie duch unsere Strategien beeinflusst werden. Wir erleben uns nicht mehr als „bedürftig”, sondern innerlich reich – und tragen diesen Reichtum in die Welt.