Bewusstheit bedeutet für mich, dass ich mir des Einflusses unbewusster Vorgänge auf meine bewussten Erfahrungen bewusst bin, mir bewusst bin, dass sie nicht die Wirklichkeit sind und mich durch das bewusste Richten meiner Aufmerksamkeit auf meine Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, im Erfahren meines Selbst als ihr Beobachter, der Wirklichkeit in den Grenzen meines Menschseins immer weiter annähere.
Wenn wir etwas neu lernen, Laufen, eine Sprache, ein Instrument, Fahrrad oder Auto fahren, dann ist das für uns zunächst verhältnismäßig mühsam. Bestimmte Bewegungsabläufe, Gedanken oder Laute müssen wir immer und immer wieder wiederholen. Nachdem wir lange genug geübt haben, brauchen wir diese Abläufe nicht mehr bewusst und Schritt für Schritt auszuführen. Unser Unterbewusstsein übernimmt und zuvor komplizierte Abläufe laufen wie von selbst. Ich erfahre noch bewusst, dass ich einen Text lese, aber das Entschlüsseln der Buchstabenkombinationen, die für mich einst gar keine Bedeutung hatten, geschieht in meinem Unterbewusstsein – ich bekomme es normalerweise nicht mehr bewusst mit.
Grundsätzlich sind unbewusste Vorgänge also durchaus sinnvoll. Sie erleichtern unser Leben, indem komplexe und anstrengende Vorgänge für uns einfacher, leichter und effizienter werden.
Ähnlich ist es mit unserer Wahrnehmung, dem Deuten unserer Erfahrungen und den daraus hervorgehenden Handlungen. Wir entwickeln im Laufe unseres Lebens Automatismen die unsere Wahrnehmung filtern, sie deuten und uns in automatischen Mustern handeln lassen.
Die Prozesse unserer Wahrnehmung, deren Deutung und der darauf basierenden Handlungen sind jedoch sehr viel tiefgründiger und folgenreicher. Sie formen in jedem Moment unsere erlebte Wirklichkeit, bestimmen wie wir uns selbst und unsere Mitwelt erfahren. Und sie basieren auf Programmierungen aus unserer Vergangenheit, deren wir uns heute meist nicht bewusst sind. Wir erleben durch sie das Hier und Jetzt durch unterschiedliche Brillen unserer Vergangenheit – ohne dass uns das bewusst ist. Darüber hinaus ist unsere Wahrnehmung und deren Deutung ein komplexer Prozess, dessen Ergebnis und unser Einfluss darauf sehr davon abhängen, wie bewusst wir uns der in uns ablaufenden Bewusstseinsprozesse sind.
Hinter dem Erfahrungsfluss, den wir in jedem Moment bewusst wahrnehmen, steckt eine Vielzahl unbewusster Vorgänge, Erinnerungen, Bewertungen, Urteile, Gefühle, Erwartungen, Täuschungen und Irrtümer.
Bewusstheit bedeutet für mich, dass ich die Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Gefühle dieses Erfahrungsflusses nicht nur bewusst wahrnehme, sondern auch, dass ich mir dessen bewusst bin, dass sie keine Tatsachen sind, sondern eben Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, die sich gegenseitig beeinflussen, durch alte, auch unbewusste Erfahrungen, Gedanken und Gefühle beeinflusst werden und zusammen ein Bild der Wirklichkeit formen, das subjektiv und eingeschränkt ist – und nicht die Wirklichkeit selbst.
Der Schlüssel zu unserer Bewusstheit ist unsere Aufmerksamkeit. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit beobachtend und annehmend auf unsere Sinneseindrücke, unsere körperlichen Empfindungen, unsere Gedanken und unsere Handlungen richten, nehmen wir bewusster wahr, erleben und handeln wir bewusster.
Es ist faszinierend, wie wenig wir von unseren inneren Vorgängen mitbekommen können. Und wenn andere andeuten, dass wir mit uns selbst, unseren Gefühlen, Gedanken und Bedürfnissen nicht bewusst in Kontakt sind, werden wir vielleicht sogar ärgerlich: wie kann jemand sich einbilden, mehr über diese inneren Vorgänge zu wissen, als ich selbst, der sie doch als einziger erlebt und ihnen am nächsten ist? Natürlich sollten wir solche Impulse von außen nicht ohne eigene Überprüfung einfach übernehmen, aber sie können uns helfen, auf etwas aufmerksam zu werden, was sich uns selbst oft verbirgt, wenn wir nicht bewusst danach schauen. Besonders in Verbindung mit intensiven, erlebten oder verdrängten Emotionen und bewussten und unbewussten Gedanken, mit denen wir uns identifizieren, können wir sehr davon überzeugt sein, etwas als Wirklichkeit zu erfahren, was sich in ruhigeren, klareren Momenten als Film herausstellt, der in uns abgelaufen ist, weil wir uns in unseren Gedanken und Gefühlen verloren haben, ohne dass uns das bewusst war.
Tatsächlich werden uns einige unserer Bewusstseinsprozesse entgehen und zu verfälschten Wahrnehmungen, Deutungen und darauf aufbauenden unbewussten Handlungen führen, wenn wir nicht gelernt haben, sie bewusst wahrzunehmen. Meist lernen wir, uns eher nach außen zu orientieren (und damit auf das Endprodukt, den fertigen Erfahrungsfluss) und kaum, Gefühle von Gedanken zu unterscheiden, Verantwortung für sie zu übernehmen und sie anzunehmen wie sie sind, klare Beobachtungen zu machen, uns nicht mit unseren Gedanken zu identifizieren und sie bewusst zu wählen, und damit die Wirklichkeit weniger verfälscht wahrzunehmen. Außerdem waren viele Deutungen unserer Vergangenheit – auf denen unsere heutigen Deutungen und unser heutiges Erleben gründen – Irrtümer oder haben sich den Veränderungen unseres Lebens nicht angepasst und behindern uns heute, statt uns zu unterstützen.
Um unsere Bewusstheit zu entwickeln, ist es also wichtig, uns unserer inneren Bewusstseinsprozesse bewusst zu werden. Dies geschieht, indem wir bewusst unsere Aufmerksamkeit nach innen lenken und bei den Phänomenen verweilen lassen, die wir wahrnehmen. Diese sind Sinneseindrücke, die wir über unsere Sinne erfahren, Gedanken, die diese Eindrücke deuten und Gefühle, die durch diese Deutungen ausgelöst werden, je nachdem wie unsere Bedürfnisse durch sie erfüllt oder nicht erfüllt werden. Dabei beeinflussen sich Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle gegenseitig und wir bekommen bewusst oft erst das Ergebnis einer längeren Kette von Deutungen und Gefühlen mit.
So löst eine Kritik unseres Gegenübers bei uns vielleicht einen Schmerz aus, weil sie unser eigenes Urteil über uns zu bestätigen scheint, dass wir so, wie wir sind, nicht liebenswert sind. Da wir uns dieses eigenen Urteils aber nicht bewusst sind und der Schmerz zeitgleich mit der äußeren Kritik auftritt und damit die Ursache im Außen zu liegen scheint, sagen unsere Gedanken, dass unser Gegenüber unverschämt ist. Wir sind mit ihenen identifiziert und folgen ihnen, statt unser eigenes Urteil über uns selbst loszulassen. Wir wären wütend auf unser Gegenüber, wenn wir nicht außerdem die unbewusste Überzeugung hätten, dass unsere Wut gefährlich und nicht richtig ist, sie in uns Angst auslöst und wir uns deshalb stattdessen zurückziehen in für uns und unser Gegenüber weniger gefährliche Trauer, indem wir denken, dass uns niemand mag. Was sich wieder einmal bestätigt zu haben scheint.
Ohne die Überzeugung, dass unsere Wut zerstörerisch ist und unsere Angst davor, hätten wir unserem Gegenüber vielleicht entgegnet, dass wir es leid sind, immer nur Kritik zu hören und nicht auch einmal Bestätigung. Ohne unsere Vorstellung, dass wir erst bestimmte Leistungen erbringen und bestimmte Eigenschaften haben müssen, um Liebe und Annahme zu erfahren, könnten wir die Kritik vielleicht unabhängig unseres Selbstwertes als Bereicherung und Chance zur Weiterentwicklung hören und vielleicht sogar Dankbarkeit dafür empfinden oder sie aber auch als nicht zutreffend abhaken, ohne dass wir auf uns oder unser Gegenüber ärgerlich sind. Vielleicht könnten wir hinter der Kritik, ob zutreffend oder nicht, auch unerfüllte Bedürfnisse unseres Gegenübers hören, und unserem Gegenüber aus unserem Selbstvertrauen und unserer Empathie heraus dabei helfen, sie zu erfüllen und den Mangel in Zukunft vielleicht anders auszudrücken… und so fort.
Mit Hilfe unserer Aufmerksamkeit kommen wir der ursprünglichen Antwort in uns auf Ereignisse immer näher und immer mehr im Hier und jetzt an, statt in unserer Vergangenheit zu leben. Nach und nach lernen wir inne zu halten und mit den auftauchenden unangenehmen körperlichen Empfindungen annehmend in Kontakt zu sein, ohne in den von ihnen ausgelösten, automatisch ablaufenden Mustern gefangen zu sein. Wir lernen, uns unserer eigenen Urteile bewusst zu werden und sie wie alle unsere Gedanken zu beobachten, um bewusst zu erfahren, wie unser Glaube an sie unsere Wirklichkeit formt und in uns Gefühle auslöst. Wir lernen selbst zu wählen, welchen Gedanken wir folgen und welchen nicht.
Wir lernen, die Bedürfnisse hinter unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen zu erkennen und wie viele Möglichkeiten wir haben, sie zu erfüllen. Und wir lernen, gedankenfreien Raum nicht mehr als unangenehm zu erleben, sondern als Tor zu unserem bewussten Selbst, zu bedingungslosem Frieden, Lebendigkeit und Liebe.