Mit Hilfe von Urteilen versucht unser Verstand eine komplexe, sich in ständiger Veränderung befindliche lebendige Welt einzufrieren, zu vereinfachen und zu verallgemeinern, um leichter unsere Bedürfnisse erfüllen zu können.
Wir kommen mit Urteilen in Kontakt, bevor wir selbst in der Lage sind, uns ihrer bewusst zu werden, sie zu hinterfragen, zu überprüfen und selbst zu entscheiden, ob wir an sie glauben wollen oder nicht. Sie betreffen uns selbst, unsere Mitwelt und die Verbindung miteinander. Viele übernehmen wir von anderen, sie sind oft schon generationen-alt. Andere bilden wir selbst. Unbewusste Urteile sind besonders problematisch, weil wir überhaupt nicht bemerken, dass wir etwas als Wirklichkeit erleben, was tatsächlich nur Gedanke ÜBER die Wirklichkeit ist und wir dadurch auch nicht ohne weiteres die Möglichkeit haben, sie zu hinterfragen, zu überprüfen und loszulassen. Außerdem sind sie oft die Basis für weitere Urteile, die wir so nur scheinbar bewusst treffen. Es entstehen ganze Urteilsketten, die auf Urteilen basieren, deren wir uns überhaupt nicht bewusst sind! Viele unserer bewusst übernommenen oder gebildeten Urteile gründen auf unbewussten Urteilen.
Urteile entstehen in Folge von erfüllten oder unerfüllten Bedürfnissen und damit verbundenen angenehmen oder unangenehmen Gefühlen. Darüber hinaus haben sie wie alle Gedanken, die in unserem Bewusstseinsraum entstehen, erst dann eine Bedeutung, wenn wir an sie glauben oder uns mit ihnen identifizieren. Eine Identifikation mit unseren Gedanken findet statt, wenn wir unsere Gedanken und unser Bewusstsein oder Selbst als Eins erleben oder wenn wir Gedanken als die Wirklichkeit erleben, statt eine in unserem Bewusstseinsraum entstehende Deutung der Wirklichkeit, die wir beobachten können, ohne auf sie als vermeintliche Wirklichkeit reagieren zu müssen.
Urteile, an die wir glauben, erleben wir als Wirklichkeit! Unser Bild von uns selbst und unserer Mitwelt ist meist eine durch unzählige bewusste und unbewusste Urteile gefilterte Deutung der Wirklichkeit.
Da wir durch unsere Urteile nicht mit den darunter liegenden Bedürfnissen selbst in Kontakt sind, führen unsere Urteile mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass sie auch in Zukunft nicht erfüllt werden.
Urteile wirken auch auf die Erfüllung weiterer Bedürfnisse und lösen damit verbundene Gefühle aus, die wiederum weitere Gedanken und Urteile auslösen. Durch unsere Urteile entstehen Emotionen: sich gegenseitig verstärkende Gedanken und Gefühle, mit denen wir uns identifizieren, statt sie bewusst zu beobachten. Emotionen sind die Folge fehlender bewusster und annehmender Aufmerksamkeit für ein Grundgefühl, das wir durch ein Urteil und die dadurch ausgelösten weiteren Gefühle verdrängen.
Unangenehme Gefühle, denen wir nicht mit annehmender Aufmerksamkeit begegnen, lösen negative Gedanken und Urteile aus. Negative Gedanken und Urteile an die wir glauben und mit denen wir uns identifizieren, erzeugen unangenehme Gefühle.
Ur-teile trennen uns von Lebendigkeit. Durch den Glauben an sie sind wir mit Vor-stellungen in Kontakt, statt mit Wirklichkeit, mit festen Deutungen, statt Lebendigkeit. Wir sind mit unserer Aufmerksamkeit nicht in der Gegenwart, im Hier und Jetzt – dem einzig wirklichen Moment – sondern in einer Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir erleben uns als getrennt und können Lebendigkeit, Liebe und Frieden, die mit unserem Sein natürlich verbunden sind, nur noch unter bestimmten Bedingungen erfahren. Die Folge davon sind das Erleben von Mangel, Unsicherheit, Ängste, fehlendes Vertrauen und Misstrauen, Isolation, Einsamkeit, Ohnmacht, unterschiedlichste Formen von unbewusstem Verhalten und seelischer und körperlicher Gewalt gegen uns selbst und unsere Mitwelt. Dadurch fügen wir uns mit jeder Verurteilung – egal ob von uns selbst oder unserer Mitwelt – zuallererst selbst Leid zu.
Wenn wir urteilen können wir nicht empathisch und mitfühlend sein. Wir verlieren die Verbindung zur Wirklichkeit. Statt ihrer erleben wir die Bestätigung unserer Urteile, weil wir unser Erleben unbewusst so deuten, dass es unseren Urteilen entspricht und sie bestätigt und verstärkt. Dadurch erschaffen wir sich selbst erfüllende Prophezeiungen.
Die Probleme, die wir in der Welt sehen, entstehen aus Urteilen und Verurteilungen. Menschen, die verurteilt wurden und diese Urteile oder das Urteilen an sich übernehmen – sind von sich selbst, Lebendigkeit, Frieden und Liebe getrennt und erleben Mangel, den sie im Außen zu kompensieren versuchen. Jede Form von unbewussten Verhalten, Gewalt und Kampf entsteht daraus. Weitere Urteile verstärken diese Probleme und erhalten sie. Wir können unsere Welt nur dann grundlegend verändern, wenn wir aus dem Leid verursachenden System des Verurteilens aussteigen und andere, lebendigere Wege finden, mit den darunter befindlichen unerfüllten Bedürfnissen umzugehen.
Dazu müssen wir lernen, mit den ursprünglichen Gefühlen, die durch ein unerfülltes Bedürfnis ausgelöst wurden, annehmend in Kontakt zu sein, also wertungsfrei unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten. Durch den Kontakt mit uns selbst werden wir ruhiger und können die entstandenen oder entstehenden Urteile beobachten und als solche erkennen. Statt ihnen zu folgen, können wir uns mit dem ihnen zugrunde liegenden unerfüllten Bedürfnis verbinden und uns darum kümmern – wodurch wir wieder mit unserer Lebendigkeit in Verbindung kommen. Wir verlassen damit das verurteilende System und unterbrechen den Kreislauf von Unbewusstheit und Kampf, was die Voraussetzung für Frieden ist – in uns selbst und unserer Mitwelt.